“Es war besser, ein Verbrecher als ein Jude zu sein”
Der frühere Bundespräsident Horst Köhler (l.) und der amtierende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier begrüßen 2019 in der französischen Friedrichstadtkirch Anita Lasker-Wallfisch. Ihr wurde während eines Festaktes der Nationalpreis 2019 verliehen. (Foto: dpa/picture alliance)
Anita Lasker-Wallfisch war Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz – Zoom-Gespräch mit Pockinger Gymnasiasten
Bis heute plagen Anita Lasker-Wallfisch Albträume: „Wenn man einmal da war, kommt man nie wieder raus. Es ist eine Erfahrung, die so außerhalb des Normalen ist.“ Sie spricht von einem Ort unfassbarer Verbrechen: dem Vernichtungslager von Auschwitz-Birkenau. Mit 16 Jahren wurde sie dorthin deportiert. Überlebt hat sie nur, weil sie als Cellistin im Mädchenorchester gebraucht wurde. Heute ist die inzwischen 96-Jährige eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocaust. Von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, war in Talkshows wie Markus Lanz zu Gast und sprach mehrfach im Bundestag. Am Mittwoch aber unterhielt sie sich mit der 9b des Wilhelm-Diess-Gymnasiums über ihre Kindheit, ihre Erlebnisse in Auschwitz und den wieder aufkeimenden Antisemitismus.
Vor dem Zoom-Gespräch mit Anita Lasker-Wallfisch herrscht nervöses Gemurmel im Klassenzimmer der 9b, alle sind aufgeregt. Geschichtslehrerin Ulrike Karl hat nach der letztjährigen Holocaust-Ausstellung der Klasse beim Verlag angefragt, ob Lasker-Wallfisch für ein Online-Treffen bereit wäre. Überraschend sagt sie zu. Nun ploppt sie vorne an der Leinwand auf. Sie, die Überlebende des Nazi-Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau.
Die Kindheit
Als eine von drei Töchtern wurde Anita Lasker 1925 in Breslau in ein jüdisches Familienidyll hineingeboren. Die Musik – später für sie noch überlebenswichtig – „gab es immer bei uns im Haus. Musik hat einfach dazugehört“. Mit Begeisterung lernte sie Cello, sie wuchs wohlbehütet und gutbürgerlich auf, mit klassischer Literatur, an Sonntagen wurde französisch gesprochen. Religion spielte bei den Laskers eine untergeordnete Rolle. Nach und nach wurde das Familienglück, wie sie in ihrem Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“ schreibt, von den Nazis gefährdet, immer mehr Einschränkungen mussten hingenommen werden. „Wolltet ihr denn nicht aus Deutschland fliehen?“, fragt ein Schüler. „Natürlich“, erwidert sie. „Als die Kristallnacht am 9. November 1938 geschehen ist, war klar: Hier kann man nicht bleiben.“
Doch kein Land wollte sie aufnehmen, es gab kein Entkommen. Als die Eltern 1942 schließlich deportiert wurden, wollten die Kinder mit. „Da, wo wir hingehen, kommt man zeitig genug hin“, soll der Vater erwidert haben. „Das waren sehr weise Worte“, weiß Lasker-Wallfisch heute. So wurden die Töchter zum Arbeitsdienst eingezogen. In ihrer Verzweiflung wollten sich die Geschwister Anita und Renate – die älteste Schwester Marianne konnte nach England fliehen – gemeinsam umbringen. „Besser tot als von der Gestapo geschnappt zu werden“, dachten sie. Kurz vor der Einnahme des Gifts tauschte ein Freund das Pulver gegen Zucker aus, der Versuch misslang. Viele Jahre später konnte sie ihm dafür danken. „Sonst würde ich heute auch nicht hier mit Ihnen sprechen.“
Die Odyssee ging also weiter. Mit gefälschten Papieren gaben sich die Schwestern als Französinnen aus und versuchten, nach Frankreich zu fliehen – vergeblich. „Wir waren sehr freche Kinder damals“, lächelt sie in die Kamera. Etwa so alt wie die Schüler der Pockinger 9b dürfte sie damals gewesen sein. Eine gute Sache hatte der gescheiterte Fluchtversuch aber: Die Schwestern kamen ein Jahr ins Gefängnis, statt nach Auschwitz. „Das war unser großes Glück. Es war besser, ein Verbrecher als ein Jude zu sein. So verrückt war das alles.“
Im Konzentrationslager
Im Dezember 1943 ging es schließlich doch nach Auschwitz. Bei ihrer Ankunft musste Anita Lasker alles abgeben, ihr Kopf wurde rasiert und die Häftlingsnummer 69388 wurde ihr auf den Arm tätowiert. Sie betonte bei der Ankunft klugerweise, dass sie Cello spielen könne. Das war ihre Rettung: Ein solches hatte dem Lagerorchester, im KZ „Kapelle“ genannt, noch gefehlt. „Mein Glück war, dass ich die einzige Cellistin im Lager war.“ Somit wurde sie gebraucht und ihr Überleben war gesichert. Kurze Zeit später traf sie durch einen „unglaublichen Zufall“ ihre Schwester Renate wieder, die Geschwister unterstützten sich fortan gegenseitig.
Wie denn ein solcher Tag im Auschwitz-Orchester ablief, möchte eine Schülerin wissen. „Jeden Morgen marschierten die Gefangenen von den Lagern in die Fabriken. Wir saßen am Tor und spielten Märsche, damit alles feinsäuberlich vor sich ging. Am Abend dasselbe.“ Tagsüber probte das bunt zusammengewürfelte Orchester und lernte Noten. „Wir waren alle Kinder in Ihrem Alter, die alle mal irgendwas gelernt haben“, sagt die Überlebende an die Klasse gewandt. Anita Lasker in Auschwitz und die Schüler der 9b sind etwa gleich alt. Das Erzählte, so macht es den Eindruck, wirkt dadurch noch unmittelbarer.
Ein Schüler fragt später, wie sie das denn alles ertragen konnte. „Heute sind die jungen Leute ziemlich verwöhnt“, antwortet sie ihm ziemlich direkt. „Damals hat man gehofft, dass man in zwei Stunden noch lebt. Das Leben war auf kurze Sicht gestellt.“ Unvorstellbar für die jungen Pockinger. Immer wieder schütteln sie und die Lehrer ungläubig den Kopf.
Angespannt wirken die Schüler, wenn sie vor der Holocaust-Überlebenden sprechen, etwas nervös, manchmal bricht ihre Stimme. Trotzdem fragen sie immer wieder nach, bleiben interessiert. Das ist auch Ulrike Karl aufgefallen, die die Klasse im normalen Geschichtsunterricht von einer anderen, legereren Seite kennt. „Aber vor Anita Lasker-Wallfisch hatten sie großen Respekt“, resümiert sie im Anschluss. Dazu trug sicherlich auch bei, dass die Zeitzeugin sich immer wieder direkt an die Schüler wandte: „Für mich ist nicht wichtig, dass Sie verstehen, wie wir uns damals gefühlt haben. Mir ist wichtig, dass Sie verstehen, wie man sich heute anständig und menschenwürdig benimmt“, fügt sie ihren Auschwitz-Ausführungen hinzu.
Im Herbst 1944 wurden die Schwestern ins KZ Bergen-Belsen gebracht. „Das war anders als Auschwitz“, erinnert sie sich. Dort wurden die Menschen nicht mehr systematisch getötet, sondern starben aufgrund von Krankheit und Hunger. Inmitten verwesender Leichen lebten die Schwestern dort, bis sie im April 1945 von der britischen Armee befreit wurden.
Das Leben nach dem Krieg
Die heute 96-Jährige redet von „factories“ statt Fabriken, verwendet „useful“ statt nützlich und geht ans Telefon mit „I can’t speak now“, bevor sie auflegt und weiter mit den Schülern spricht. Anita Lasker-Wallfisch lebt seit vielen Jahrzehnten in England. Aus Deutschland wollte sie nach der Befreiung schnellstmöglich weg. Trotzdem dauerte es elf Monate, bis sie 1946 endlich in London ankam. „Das war irrsinnig schwer“, erinnert sie sich. Ihr Verhältnis zu Deutschland blieb lange schwierig: „Ich habe die Deutschen mit unvorstellbarer Innigkeit gehasst“, erklärt sie den Pockingern. Nie wieder wollte sie nach Deutschland zurückkehren. Ihre Haltung habe sich aber geändert, als sie einen Deutschen getroffen hat, der nach dem Krieg geboren ist. Ihr sei ein Licht aufgegangen: „Du kannst nicht dein ganzes Leben mit Hass verbringen.“
Was Anita Lasker-Wallfisch dennoch verabscheut, ist der wiederaufkeimende Antisemitismus. „Es ist ein Skandal!“, ruft sie mit brüchiger Stimme in die Kamera. Ihre Perspektive auf die aktuellen Geschehnisse interessiert die Schüler, oft fragen sie nach. Besonders die unbedachte Kritik am Staat Israel macht Lasker-Wallfisch zu schaffen. Viele hätten immer noch das Klischee von Juden als Drückeberger, Feiglinge und Bettler im Kopf. „Jetzt endlich haben sie ein winziges Stück Land und können sich verteidigen“, erklärt sie. Das passe doch gar nicht ins Bild. „Die Juden verteidigen sich? Unverschämt!“ Obwohl es selbstverständlich auch Riesenprobleme innerhalb des Landes gebe, werde das Verhalten Israels allzu oft als „faule Ausrede“ für Antisemitismus benutzt. Sie wird emotional: „Es ist ein Irrsinn, wie alles verdreht wird.“
Nach dem Gespräch ist es still im Klassenzimmer. Das muss erst einmal verarbeitet werden. „Sehr mutig“, findet eine Schülerin die Offenheit und Ehrlichkeit von Anita Lasker-Wallfisch. Mit wachem Geist und klaren Worten brachte die 96-Jährige den Schülern die Schrecken des Holocaust anhand ihrer Lebensgeschichte nahe. Dabei verlor sie nie den Blick für das Schöne im Leben. „Haben Sie heute ein anderes Verhältnis zur Musik?“, fragt ein Schüler. „Nein“, meint sie. „Musik ist unantastbar. Hitler hat vieles kaputt gemacht, aber nicht die Musik.“
(PNP vom 11.12.2021 von Klaus Kloiber)